Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen.
Liebe Gemeinde,
die moderne Bibelwissenschaft hat Spannendes herausgefunden. Die Bibel ist entstanden, indem dauernd zu alten Texten neue Deutungen hinzugekommen sind. Wie wenn jemand eine kurze Erzählung schreibt und am Ende haben 5 verschiedene Verfasser Ergänzungen dazu geschrieben und wir versuchen, die unterschiedlichen Verfasser später zu erkennen. Und rauszubekommen, warum sie das so ergänzen. Mit welcher Absicht und vor welchem Hintergrund. Und das vor mehr als 2000 Jahren in einer ganz anderen Welt. Also, da ist Detektivarbeit zu leisten.
Micha war ein Prophet um 720 vor Christus. Er erlebte, wie der größte Teil Israels im Norden von der Großmacht Assur aus dem heutigen Irak zerstört wurde, aber die Belagerung Jerusalems vielleicht wegen einer Seuche abgebrochen wurde. Micha kritisierte die soziale Ungerechtigkeit und sah ihre Ursache darin, dass die Menschen zu sehr Gott vergessen hatten und in ihren Seelen so Armut herrschte.
Kein Mitgefühl, kein Respekt, kein Sichkümmern um andere, die in Not sind. Sein Name Micha wird gedeutet: wer ist wie Gott? Mit der Betonung: wer ist so mächtig wie Gott. Achtet auf seine Gebote. Sonst kommen schlimme Folgen.
Es gab schlimme Folgen. Auch das wenige, was von Israel noch übrig war, wurde 130 Jahre später erobert und viele wurden in den heutigen Irak verschleppt. Wiederum 70 Jahre später kamen die Perser an die Macht und ließen die Menschen wieder nach Israel zurück.
Aus dieser Zeit stammt eine Ergänzung zum Buch Micha im letzten Kapitel dieses Buches. Ich lese unseren Predigttext aus
Micha 7, 18-20
18 Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade! 19 Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen. 20 Du wirst Jakob die Treue halten und Abraham Gnade erweisen, wie du unsern Vätern vorzeiten geschworen hast.
Der Name des Propheten Micha (d.h. Wer ist wie Gott?) bekommt hier einen anderen Beigeschmack. Wer ist wie Gott, der vergibt? Der drohende Gott des alten Propheten wird ergänzt durch den gnädigen Gott, der nach langer, langer Zeit seinem Volk vergibt und ihm die Treue hält.
Liebe Gemeinde, stellen wir uns vor, wir schreiben das Buch unseres Lebens. Ein Tagebuch. Das wird ja empfohlen. Ich gebe zu, ich mache es auch nicht. Aber stellen wir uns, wir schreiben ein solches Buch unseres Lebens. Es kommt ja immer etwas Neues hinzu. Und immer wieder geschieht es, dass alte Sorgen gegenstandslos geworden sind. Es hat sich etwas erledigt, was mich sehr belastet hat. Es ist mir ein Stein von der Seele gefallen. Vielleicht hat mich irgend etwas in der Wohnung genervt und jetzt gibt es etwas Neues und das alte Problem ist gelöst.
Dann kann ich ein weiteres Kapitel hinzufügen und das, was war, neu bewerten. Das Alte ist vergangen. Ich kann darauf zurück schauen und mich bei Gott bedanken, dass etwas nicht so schlimm war, wie ich es mir in meinen Ängsten ausgemalt habe.
Das geschieht immer wieder in unserem Leben. Alte Sorgen sind gegenstandslos geworden. Und wenn wir zufriedene Menschen sein wollen, dann sollten wir das sehen und ausdrücken und dankbar sein.
Natürlich gibt es auch das Andere. Es gibt falsches Verhalten und die Wirkungen sind zu erkennen. Solche Propheten haben wir zum Beispiel beim Klimawandel. Zu sehen, was kommen wird, und die Stimme zur Warnung zu erheben, ist nicht schwer. Aber dass die Gesellschaft rechtzeitig das Vernünftige und Rettende macht, das ist schwer.
Ich lese gerade die Autobiographie des berühmten Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki. Das Buch hat den Titel: Mein Leben. Marcel Reich-Ranicki wurde 1920 geboren. Er war Jude mit deutsch-polnischen Wurzeln. Er ist 2013 mit 93 Jahren gestorben und hat das Literarische Quartett im ZDF geprägt. Er war im jüdischen Ghetto in Warschau und hat überlebt, weil er die Hoffnung nie aufgeben hat. Er hatte in seinem preußischen Geschichtsunterricht in Berlin gelernt, dass am Ende immer die vernünftige Position sich in der Geschichte durchsetzt. Er war überzeugt, dass die Nazis sich nicht dauerhaft halten werden.
Ich war erstaunt über diesen Optimismus angesichts der Geschichte. Wir heute neigen eher zu dem Gefühl, dass alles den Bach runter geht und nichts mehr zu machen ist. Dabei zeigt uns die Bibel und auch die Christentumsgeschichte danach ganz deutlich, dass die Haltung der Hoffnung stimmt. Die Krisenzeiten waren die wichtigen Zeiten, in denen wichtige Werke entstanden sind und in denen es wichtige Veränderungen gab. Die Juden haben das Babylonische Exil überstanden, weil sie nie vergessen haben, dass sie aus der Sklaverei in Ägypten befreit worden sind. Die Freunde Jesu haben den Tod Jesu und die frühe Verfolgung überstanden, weil Jesus als Auferstandener im Geist bei ihnen war, als Hoffnung wider alle Hoffnung. Die Christen sind im Römischen Reich verfolgt worden, den wilden Tieren im Circus vorgeworfen worden. Und nach 300 Jahren haben sie das Römische Reich von innen heraus übernommen.
Wer ist wie Gott, der Sünde vergibt? Der uns die Treue hält und uns segnet, obwohl wir eine Menge falsch machen und unsere großen Chancen so wenig nutzen.
Liebe Gemeinde, wir deuten unser Leben. Gerade an den Übergängen des Lebens z.B. wenn jemand aus unserer Familie stirbt, deuten wir das, was war. Es ist heilsam für uns, wenn wir das im Licht des vergebenden und uns trotz allem segnenden Gottes tun. Das, was schwer war und ist, ich nehme es an. Es wird vielleicht einmal anders zu deuten sein. Vielleicht werde ich irgendwann ein weiteres Kapitel hinzufügen und eine andere Betonung finden.
Wichtig ist: Gott meint es gut mit uns. Gott ist der, der vergibt und trotz unserer Fehler uns segnend begleitet. Was auch immer geschieht: es kommt also darauf an, nicht die Zuversicht zu verlieren.
Es wird einmal eine Zeit nach Corona geben. Wir werden zurück schauen. Wir werden sehen, wie groß der Schaden ist. Und wir werden versuchen, mit Gottes Hilfe das Beste daraus zu machen.
Es gibt Verluste. Im Bibeltext ist die Rede vom Rest des Erbteils, also vom Rest des Volkes. Wir werden die Verluste betrauern. Aber wir werden fähig sein, nach der Trauer ein Loblied zu singen. Denn Gott hat Gefallen an Gnade. Er wird unsere Sünde unter die Füße treten bzw in die Tiefe des Meeres werfen. Das, was wir uns vorwerfen, wird beiseite gelegt. Wir bekommen es nicht immer aufs Butterbrot geschmiert, was wir falsch gemacht haben. Es ist erledigt. Wir können uns selbst mit unseren Fehlern annehmen. Wenn Gott, der Richter, das tut, dann können wir das hoffentlich auch.
Wir sind in einer Geschichte. In einer Geschichte mit Gott. Ich wünsche uns allen, dass wir in dieser Geschichte so viel Zugang wie möglich zu dem gnädigen Gott finden. So ist Gott – er hat Gefallen an Gnade, also an freundlicher und verzeihender Zuwendung. Ich wünsche uns, dass wir das erleben und weitergeben können an kommende Generationen.
Vielleicht deuten einmal künftige Generationen an unseren Tagebüchern, wo auch immer wir unsere Spuren hinterlassen. Heute wohl mehr im Internet. Hoffentlich finden sie Spuren unserer Zuversicht. Denn der gnädige Gott möchte unsere Zuversicht hervorlocken und stärken. Damit wir gut durchs Leben kommen. Damit wir mit unseren Krisen so gut wie möglich klar kommen. Mit so wenig Verlusten wie möglich. Mit so viel Staunen über die Freundlichkeit Gottes wie möglich. Wer ist wie Gott, der vergibt und Gefallen an Gnade hat?
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus zum ewigen seligen Leben.