Kapitel 1

Kapitel 1

In der Stadt im Turm der Hüterin des Buches

Laute Rufe! Wächter rennen durch die Dunkelheit. Sie durchstreifen die Altstadt und suchen nach einer Person, die unerlaubt die Unterkunft verlassen hat und nun auf der Flucht ist. 

In wenigen Minuten werden sie hier sein, denkt Jarena. Sie müssen noch die Brücke überqueren, dann sind sie im Wehrgang. Durch das breite Tor die Kopfsteinpflasterallee nach Norden und dann stehen sie vor der Tür des Turmes.

Die weißhaarige, leger gekleidete Dame strafft ihre Schultern und richtet sich auf. Wenn irgendjemand das Kind bei mir findet, werde ich einiges zu erklären haben. Aber schlimmer ist, was der Kleinen zustoßen könnte.

Die Wachen sind beim Turm angekommen. 

„Sch… ganz ruhig, bei mir bist du sicher!“, flüstert Jarena dem Mädchen zu, das gut versteckt im Bettkasten liegt. Es klingelt. Jarena erhebt sich, geht gesetzten Schrittes den Flur entlang und öffnet eine Luke in der Tür: „Ja?“

 „Verehrte Jarena, Hüterin des Buches, habt Ihr gehört, wie jemand vorbeigelaufen ist?“, keucht Hennlenius, der immer noch  gutaussehende Hauptmann der Wache. In den letzten Jahren kommt er manchmal außer Atem, wenn er mehr als ein paar Meter rennen muss. Vielleicht liegt das an dem leichten Bauchansatz, den er sich zugelegt hat, seit er mehr im Büro sitzt und nicht mehr jeden Tag auf der Straße unterwegs ist.

 „Ja, ich habe etwas gehört. Es klang wie die Schritte eines Anderen. Er ist in diese Richtung gelaufen!“ Jarena zeigt nach Norden. „Viel Erfolg bei der Suche!“

 „Bitte entschuldigt die Störung! Und seid vorsichtig. Man kann nie wissen.“ Hennlenius verbeugt sich galant und läuft in die Richtung, die Jarena ihm gewiesen hat. Seine Leute folgen. Jarena sieht ihm lächelnd nach und schließt sanft die Luke. 

„Komm raus, Kleine. Die Gefahr ist vorbei! Und jetzt erzähl! Wie heißt du?“

Das Kind klettert geschickt aus dem Kasten und lässt ihn wieder unter dem Bett verschwinden:

„Ich bin Kim, die Nichte des Vorsitzenden der Kombine in der Unterkunft.“ 

„Und was willst du von mir?“ 

„Mein Onkel Mekan schickt mich. Er hat gesagt, du bist bekannt dafür, dass du die Kinder beschützt.“

„Ja, in dem Buch steht: ‚Lasst doch die Kinder! Hindert sie nicht, zu mir zu kommen; denn für Menschen wie sie steht die neue Welt offen.‘ Und ich folge den Anweisungen des Buches,“ erwidert Jarena stolz.

„Dein Buch klingt ungewöhnlich. Aber wenn es sagt, dass du mich nicht wegschickst… Du hast mich nicht an die Wächter verraten, danke!“

„Bitte, aber warum hat Mekan dich hergeschickt?“ 

„Du bist unsere letzte Hoffnung. In der Unterkunft verliert jeden Tag jemand das Bewusstsein. Bald leben dort mehr Kombine ohne Bewusstsein als Kombine, die noch handeln können. Wir sterben. Wir brauchen dringend Hilfe!“  

Jarena atmet tief durch: „So schlimm wird es nicht sein. Die Unterkunft ist menschenwürdig eingerichtet. Ihr bekommt genug zu essen. Ihr solltet dankbar sein, dass wir euch aufgenommen haben. Natürlich ist es nicht so schön wie zu Hause. Aber es ist ja auch nur eine vorübergehende Unterbringung, bis ihr wieder zurückkehren könnt.“

Kim blickt enttäuscht zu Boden: „Du verstehst mich nicht. Wir können so nicht überleben. Die Seuche wird uns alle umbringen. Kombine leben auf weitem Raum, und wenn es zu eng wird, dann ziehen sie sich in sich selbst zurück. Wir sind nicht wie ihr. Wir können nicht in geschlossenen Zimmern leben. Wir brauchen Abstand voneinander. Wir brauchen die Weite der Landschaft. Sonst sterben wir.“

„Das klingt sehr dramatisch. Ihr seid anders als wir. Von uns hätte nie jemand ein kleines Kind mit so einem gefährlichen Auftrag betraut. Wir beschützen unsere Kinder. Was sagen denn deine Mutter und dein Vater dazu, dass du nachts die Unterkunft verlassen hast? Das ist verboten. Die Wächter hätten dich aus Versehen erschießen können. So etwas macht man nicht mit einem Kind!“ 

„Ja, es war gefährlich. Ein Wächter stand an der Mauer und hat gerufen: ‚Die Unterkunft ist geschlossen. Niemand darf sie verlassen!‘ Aber ich war schneller, ich hab mich am Fluss versteckt und bin dann hierher gerannt. Sie haben mich nicht erwischt. Ich bin schnell. Und meine Mutter und mein Vater…“  Kim blinzelt die Tränen weg.

„Meine arme Kleine! Komm zu mir!“ Die Hüterin nimmt das Kind in den Arm und wiegt es: „Wie alt bist du eigentlich?“

„Was denkst du?“

„Ich schätze so zehn bis zwölf Jahre.“

„Nein, ich bin sechzehn!“

„Das kann nicht sein!“

„Ich war 13, als ich in die Unterkunft gekommen bin. Seitdem bin ich kaum gewachsen. Aber ich bin nicht die Einzige. Die anderen Kinder wachsen auch nicht. Mein Vater und meine Mutter können sich nicht mehr um uns Kinder kümmern, weil sie das Bewusstsein verloren haben. Ich bin jetzt für meinen kleinen Bruder verantwortlich.“

„Oh mein Gott, ich wusste das nicht. Stimmt es auch, was du mir erzählst?“ 

„Komm zu uns, überzeuge dich selbst! Bitte! Du musst uns helfen, bevor es zu spät ist.“ 

„Was meinst du mit ‚bevor es zu spät ist‘?“ 

Kim springt auf: „Wir müssen kämpfen, wenn wir überleben wollen. Vielen jungen Männern ist es inzwischen egal, ob sie bei einem Aufstand sterben oder ob sie demnächst das Bewusstsein verlieren.“ 

Jarena spürt  ihre schmerzenden Füße. Sie würde sie gerne hoch legen. Aber das findet sie in dieser Situation unpassend.  Stattdessen lehnt sie sich auf dem lila Sofa zurück. Sie wirkt erschöpft und müde.  

„Jetzt setz dich erst mal wieder hin!“ Jarena klopft auf den Platz an ihrer Seite.  „Können die Kombine ohne Bewusstsein wieder aus sich heraus kommen, wenn der Raum weiter wird?“

„Ich weiß es nicht. Laut meinem Onkel gibt es damit noch keine Erfahrungen.“ 

Kim setzt sich auf den angebotenen Platz, zieht die Beine an und legt ihr Kinn auf die Knie. Sie erinnert sich gerne an die Zeit als sie noch im Grasland gewohnt hat. Wenn Mekan zu Besuch kam, hat er mit ihr und ihrem Vater zusammen gerne das Wurfspiel gespielt. Sie hat meistens ihre Kinderkugeln nahe an der kleinen Zielkugel platziert und weder ihr Vater noch ihr Onkel konnten ihre Kugeln wegschießen, weil sie so klein waren. So hat sie oft gegen die Erwachsenen gewonnen. Das waren noch glückliche Zeiten. Aber die sind nun vorbei. Ob sie je wieder so unbeschwert in die Zukunft blicken würde wie damals? Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Kim versucht sich wieder auf Ihren Auftrag zu konzentrieren.

„Wir stehen kurz vor einem Krieg. Und Mekan möchte den Krieg verhindern. Aber dafür braucht er Eure Hilfe!“, bittet Kim.

„Hmm, wenn die Kombine jetzt einen Aufstand wagen, wird es viele Tote geben. Ich muss mit deinem Onkel  sprechen. Er ist euer Anführer?“ 

Kim setzt sich wieder gerade hin: „Ja, er war früher der Vorsitzende der Ratsversammlung. Er hat uns hierher geführt. – Aber jetzt verliert er an Ansehen.“

„Das ist kritisch! Morgen werde ich offiziell die Unterkunft besuchen! Mal sehen, ob ich eine Gelegenheit finde, mit Mekan alleine zu sprechen.“

„Danke, vielen Dank!“, freut sich Kim und ist erleichtert, dass es ihr gelungen ist, die Hüterin des Buches zu überzeugen. 

„Was ist dein Onkel denn für ein Mensch – falls Mensch die richtige Bezeichnung ist?“

„Wir Kombine sind schon Menschen, wenn wir auch ein paar ungewöhnliche Fähigkeiten haben, die uns von euch unterscheiden.“

„Und die wären?“

„Wir sind mit dem Fluss verbunden und können länger schwimmen und tauchen als ihr.“

„Und das ist alles?“

„Das ist der wichtigste Unterschied“, weicht Kim aus.

„Und was ist jetzt mit Mekan?“, setzt Jarena nach.

„Mekan ist besonnen und verantwortungsbewusst. Er plant lange voraus und ist friedliebend. Er vertraut dem Fluss bedingungslos.“

„Ich freue mich darauf, ihn kennenzulernen. Aber nun bin ich müde. Geh jetzt zurück in die Unterkunft und sag deinem Onkel Bescheid!“ 

Kim sieht Jarena ängstlich an. 

Jarena denkt: Früher war ich aufmerksamer und habe mehr an andere gedacht. Wie konnte ich vergessen, welche Gefahren das Mädchen auf sich genommen hat, um in der Nacht bis zu mir zu gelangen, und sie sagt:

„Nein, natürlich nicht! Das ist viel zu gefährlich. Du kannst bei mir bleiben. Aber wie mache ich das? Es ist jetzt  Zeit für das Buch. Und du darfst nicht dabei sein, wenn ich darin lese.“

„Ich verstecke mich wieder im Bettkasten. Dann kannst du in Ruhe tun, was du möchtest“, bietet Kim an.

Kim ist blass geworden und fürchtet, dass sie sich gleich übergeben muss. Sie fragt sich, ob Jarena dann wütend auf sie sein wird. Nein, ich schaffe das!, denkt sie  und zieht  den Bettkasten auf. Sie strafft die Schultern und klettert hinein.

Jarena fühlt sich nicht wohl damit: „Wenn dir schon die Unterkunft zu eng ist, dann ist so ein Bettkasten wirklich schlimm.“

Kim nickt und denkt an ihre Eltern, wie sie mitten im Zimmer gleichzeitig zusammen gebrochen sind. Sie und ihr kleiner Bruder Jan haben die beiden auf ihre Matten gezerrt und warm zugedeckt. Jeden Tag sehen sie nach, ob die beiden noch atmen. Sie wirken kalt und starr. Aber sie haben weder abgenommen noch hat sich ihr Herzschlag verändert. Sie werden nicht sterben, hofft Kim. Noch niemand von den Erwachsenen, die das Bewusstsein verloren haben, ist gestorben. 

„Aber ich habe keine andere Lösung. Es tut mir wirklich leid!“, sagt Jarena.

Sie schiebt den Kasten, in dem sich das Mädchen zusammen gerollt hat, unter ihr Bett. Sie öffnet einen reich verzierten Schrein und versetzt sich in Trance, um von dem inneren Wächter die heutige Zahlenkombination zu bekommen. Aber sie hört keine Zahlen sondern einen Satz aus dem Buch: „Glücklich sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erfahren!“ 

Jarena versucht es noch einmal. Wieder die gleiche Antwort, keine Zahl. Das ist ihr noch nie passiert. Sie ist verwirrt. 

Dann sieht sie zu ihrem Bett und errötet. Beschämt geht sie zu Kim und öffnet die Schublade, in der Kim liegt.

„Komm raus Kleine! Willst du mit mir in dem Buch lesen?“

Kim klettert erleichtert hinaus und fragt: „Darf ich das denn?“

„Ja, das Buch hat mir gesagt, dass du mitlesen sollst!“, erwidert Jarena

Kim hebt den Kopf und geht neugierig zum Schrein hinüber. Sie streicht über die Borte aus Blattgold und bewundert das Rosenmuster auf den beiden Türen.

Jarena versetzt sich wieder in Trance. Sie tippt die Zahlen ein. Die Tür öffnet sich. Ein prachtvolles altes Buch kommt zum Vorschein. Es ist in rotes Leder gebunden. Jede Seite beginnt mit einem großen, besonders gestalteten Buchstaben. Vorsichtig nimmt Jarena das schwere, wertvolle Buch heraus.

„Liest du jeden Tag darin?“, will Kim wissen.

„Oh ja, immer!“ 

„Kannst du es noch nicht auswendig? Warum nimmst du es immer noch heraus?“ 

„Mein Gedächtnis kann mich täuschen. Und es ist so wundervoll über das alte Papier zu streichen. Sieh mal, wie schön es aussieht! Wo habe ich gestern aufgehört? Ah, ja!“ 

Jarena schlägt das Buch vorsichtig auf einer der hinteren Seiten auf und beginnt laut zu lesen: „Glücklich sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Land erben.“ 

Sie wird von einem unterdrückten Schluchzen unterbrochen.

„Warum weinst du?“, fragt Jarena.

„Meine Familie war fast immer sanftmütig. Wir Kombine hassen Streit. Deshalb wohnen wir so weit auseinander. Wir freuen uns immer, wenn wir jemand anderen sehen. Und wenn wir uns nicht mehr freuen, dann gehen wir zurück nach Hause, wo viel Platz ist. Wir waren glücklich. Aber jetzt können wir nicht mehr sanftmütig sein. Wir haben kein Land mehr. Wir ändern uns und wir verlieren unsere Kultur! Und am Ende werden wir wieder wie früher.“ 

„Was meinst du damit‚ ‚wir werden wieder wie früher‘?“

„Das habe ich nur so dahin gesagt. Es hat nichts zu bedeuten!“, weicht Kim aus.

Jarena entscheidet sich, nicht weiter nachzufragen und die Sache vorerst auf sich beruhen zu lassen. 

„Eine alte Verheißung in dem Buch sagt, ihr werdet das Land erben! Allerdings müsst ihr eure Sanftmut bewahren, damit die Verheißung sich erfüllt. Hör mal, wie es weiter geht: ‚Glücklich sind die, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, denn sie werden satt werden‘.“

„Oh ja, das sind wir, die Kombine in der Unterkunft. Es ist so ungerecht, uns einzusperren und dass wir uns nicht frei bewegen dürfen. Es ist so ungerecht, dass sie uns unser Land weggenommen haben. Wenn jemand nach Gerechtigkeit hungert und dürstet, dann wir! Aber wir sind nicht glücklich, wir sind furchtbar unglücklich!“ Kim steht der Zorn ins Gesicht geschrieben.

Nachdenklich streicht Jarena über die reich verzierte Seite. Was hat sie da eigentlich gerade gesagt? ‚Die Kombine werden das Land erben.‘ Das Land gehört ihnen, der Stadtbevölkerung, dem Volk des Buches. Wie kann sie so etwas auch nur denken? Und wieso versteht dieses Kind die geheime Bedeutung so gut? Und wieso hat der innere Wächter sie aufgefordert, Kim das vorzulesen?

Wann hat das letzte Mal ein Abschnitt aus dem Buch so unmittelbar zu einer Person  in der Stadt  gesprochen?, fragt sich Jarena. 

Die Hüterin beschleicht eine böse Vorahnung. Was wird aus ihrem ruhigen geachteten Leben werden, wenn sie sich da einmischt? Und das alles wegen einem kleinen Kind.

Nein, kein kleines Kind, ein jugendliches Mädchen. Und hübsch ist sie auch. Ihre grünen Augen leuchten, selbst wenn sie sich fürchtet. Und ihr glattes braunes Haar fällt füllig über die zarten Schultern, denkt Jarena. 

Unverwandt sieht die Hüterin das Mädchen an: „Bist du jetzt eigentlich ein Kind oder eine Jugendliche? Wie ist das in deiner Kultur?“ 

„Ich bin noch nicht erwachsen. Früher wäre ich dieses Jahr in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen worden. Aber hier in der Unterkunft geht das nicht. Also bleibe ich noch ein Kind.“

„Kim, das ist schlimm!“

„Ja, es ist demütigend. Das Leben ist stehen geblieben. Wenn alles normal wäre, würde ich mir mein eigenes kleines Holzhaus mit Grasdach bauen und ich könnte die erste Strophe meines Lebensliedes komponieren.“

„Wie konnte so etwas im Volk des Buches passieren? Und ich hatte keine Ahnung. Ich habe den Kontakt zu der Welt da draußen verloren. Ich bin zu viel mit dem Buch in meinem großen Saal alleine gewesen. Bin ich mit über sechzig zu alt für diese Aufgabe?“ 

 Jarena räumt das Buch weg und verschließt es sicher.

„Komm Kim, lass uns schlafen gehen!“ 

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